Ich bin krank.
Nein, nicht krank vom Warten am Bahnhof. 20 Minuten, bei Eiseskälte, da wie jedes Jahr die Deutsche Bahn vom Winter völlig überrascht worden zu sein scheint und man vergessen hat, rechtzeitig die Winterreifen aufzuziehen. Sonst wären die Züge ja nicht dermaßen überfordert, wenn ein paar Schneeflocken auf der Schiene liegen. *dingdangdong* „Meine Damen und Herren, aufgrund eines Triebwerkschadens verzögert sich unsere Weiterfahrt um unbestimmte Zeit.“ *dingdangdong* „Werte Reisende, aufgrund einer Weichenstörung verzögert sich der Zug heute um 25 Minuten.“
Wenigstens sind sind wir vor den terroristischen Kofferbombern sicher. *dingdangdong* „Werte Reisende, ein Sicherheitshinweis. Bitte lassen Sie Ihre Gepäckstücke nicht unbeaufsichtigt stehen!“ Wie das allerdings jene Terroristen mit dem Verlangen nach Martyrerstatus abhalten soll, sich selbst mitsamt der dreckigen RE Züge der Bahn in die Luft zu jagen, konnte mir bis dato keiner nachvollziehbar erklären. Herr Schäuble, ich bitte um Nachbesserung! Lauschangriff, Datenspeicherung (auch von Jugendlichen, damit man auch „…minderjährige Dschihad-Propagandisten erkennen kann…“), Abschiebung, biometrische Fahrausweise, was weiß ich, irgendetwas wird Ihnen, dem zukünftigen Führers des vierten Reiches doch einfallen! Im Gegenzug hätte ich ein paar Tipps aus meinem zugegebenermaßen etwas abgegriffenen Geschichtsbuch, wie Sie Ihre Paranoia so halbwegs in die Griff kriegen. Ich habe da für Sie verführerische Visionen, eine Heerschar von Truppen, die alles dürfen, keine Gesetze zu befolgen haben, Menschen traktieren, foltern, bespitzeln können und nur Ihnen, werter Führer, Rechenschaft ablegen müssen. Ob Sie diese Truppe nun SA, SS oder MfS nennen möchten (strengt das Gehirn nicht so an) oder aber einen völlig neuen, glohrreicheren Namen ersinnen, bleibt ganz Ihrer kranken Fantasie überlassen.
Auch bin ich nicht krank von all den zänkischen Leuten im öffentlichen Nahverkehr. Diese scheinen in den überfüllten Zügen jegliches zivilisierte Verhalten außerhalb des Zuges gelassen zu haben. „Könnse ma beiseite jehn? Is ja nich auszuhalten, wie dämlich Sie hier den Jang vasperrn!“ – „Leckste mir am Arsch Vogel, siehste doch, dett ick wejen der fetten Wachtel da vorne ooch nich weitakomme!“ Währenddessen stehen Anstand, Freundlichkeit und gute Kinderstube eng zusammengekauert auf dem mit -6°C eher nicht so wohltemperierten Bahnhof, zitternd mit den imaginären Zähne klappernd und betreten und beschämt zu Boden blickend.
Ebensowenig bin ich krank ob all der schlechten Nachrichten, die uns aus jedem Winkel der Erde erreichen und sei er noch so entlegen. Mal im Ernst, wann gab es vor der Wirtschaftskrise das letzte mal große Nachrichten aus dem Lande unserer isländischen Nachbarn? Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Ich könnte jetzt wohl googlen, hier etwas lehrreiches posten und so tun, als würden mich isländische Nachrichten selbstverständlich interessieren, aber manchmal reicht mein IQ schon nicht aus, um Vorgänge und Entscheidungen innerhalb der Europäischen Union zu begreifen. Mein internationaler Weitwinkelblick wird westlicher Hand von einem fetten, ekelhaften, stinkenden, die letzten Jahre miserablel regiertem Land unter der Flagge aus Stars und Stripes blockiert. Östlicher Hand sind es reisfressende Diktatoren, die immer noch nicht begriffen haben, dass das Volk sich irgendwann wehren und solch kleine perverse Scheißer auf dem Scheiterhaufen hinrichten wird, sowie mafiöse Machenschaften von skrupellosen Politikern und abgebrühten Finanziers die Vorherrschaft über die Gaspipelines errungen haben, welche meinen Blick gefangen halten.
Nicht weil es mir gefällt, ganz und gar nicht. Es ist eher wie bei einem Unfall, den man zufällig mitbekommt. Man kann einfach nicht wegsehen, egal wie eklig es wird. Kommt schon, das Gaffer-Gen steckt irgendwie in jedem von uns. Nur halt mehr oder weniger ausgeprägt. Ist es bei jemandem stärker ausgeprägt, zeigt es sich dadurch, dass die betreffende Person durchaus in die Kategorie Bild-Leser oder Dschungelcamp-Zuschauer gepackt werden kann. Jedem seine Phobien…
Doch ich schweife ab. Zurück zu meiner Krankheit – schließlich will ich hier heute schließlich noch Mitleid abgreifen! Ich bin krank, weil mir meine kleine Tochter ständig ins Gesicht hustete, während sie krank war. Die Betonung liegt auf WAR. Kindergartensperre. Mama musste dringender auf Arbeit als Papa. Und da die Zeiten des männlichen Vorrechts auf das „Familie allein ernähren“ ja schon ein paar Jahunderte vorüber ist, stellte ich meine Keule wieder in die Ecke, hörte auf, meine Frau durch die Wohnung zu schleifen, ließ ihren Haarschopf wieder los und beugte ich mich meinem Schicksal. Irgendwie scheint Phoebe jedoch noch nicht ganz verstanden zu haben, was „Hand vor den Mund beim Husten!“ bedeutet. Sie kann es, ich habe es wiederholte Male gesehen! Nur scheinbar vergisst sie es, wenn es drauf ankommt. Also inzwischen Kind gesund – Papa krank.
Nun sitze, hocke, vegetiere ich zu Hause und schütte Bierfass-Mengen an Tee in mich hinein. Der Vorteil ist, dass ich bei diesen Kubiklitern an Flüssigkeit die nächsten zehn Jahre garantiert keine Nierensteine kriege. Meine Hausärztin wird das nächste mal bestimmt anerkennend nicken, wenn ich sie besuche. Außerdem übergebe ich Taschentücher kiloweise mit feierlicher, musikalisch untermalter Zeremonie *schneuz* ins schleimige Reich der Taschentuchhölle und verdamme Gott dafür, dass er es zugelassen hat, dass sich die (angeblich) auserwählte Rasse auf Erden mit solch trivialen Nichtigkeiten wie KOPFSCHMERZEN abgeben muss, während man stattdessen weiter am Weltfrieden tüfteln könnte. Gerade eben wurden meine Gedankengänge davon abgelenkt, welch schöne Parabel ein Stück meiner Lunge während des erneuten Hustenanfalls beschrieb. Schöner kann man Kurvenlehre nicht veranschaulichen. Fehlt nur noch der Slowmotioneffekt und den Wiener Walzer als Hintergrundmusik eingespielt. Ich sollte Regisseur werden.
Wie auch immer, das Schlimmste am Husten ist, dass die gerade abklingenden Kopfschmerzen nach jedem Anfall wieder hochmotiviert ans Werk gehen. Gerade noch ein halbdösendes Decrescendo in den hintersten Ecken meines Genies, nun rinforzando gefolgt von einem subito fortissimo. Die Sinfonie mit dem Paukenschlag gefangen in einem Bermudadreieck zwischen Schläfen und Hypothalamus. Mein Leben ist momentan eine Qual. Ich bin nicht wehleidig. Ehrlich! Ich kann vieles ab. Wirklich! Hand auf’s Herz, ich geh mit 39.5 Fieber auf Arbeit und jogge danach noch zum zu früh abfahrenden Bus! Aber Kopfschmerzen sind wirklich das Schlimmste. Wenn die kleinen Bergleute den ganzen Tag ihre kleinen Rüstungen – unter der Zuhilfenahme meines Kopfes als Amboss – schmieden, frage ich mich, warum die Wirtschaftskrise keinerlei Auswirkung auf die Auftragslage dieser kleinen Scheißer hat. Das zeigt nur eines: selbst in einer globalen Wirtschaftskrise trifft es wie immer nur die Falschen.
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