Verlorene Jugend
Mein Sohn war heute in der Hauptstadt unterwegs. Für einen Siebzehnjährigen eigentlich ein völlig normaler Vorgang, wenn die Zeiten noch nach dem „alten Normal“ funktionieren würden. Unsere Jugend wird jedoch heute auf das neue Normal getrimmt. Es ist plötzlich normal, die Mimiken der Menschen im allumfassenden Alltag zu verbergen. Es ist plötzlich normal, wenn sich bis tief in die eigene Sippe ein Misstrauen gegenüber und eine Diffamierung Andersdenkender manifestiert. Es ist plötzlich normal, wenn sich das eigene Kind aus eigener Erfahrung der Massenmeinung beugt, weil es erkennt, sonst nicht erreichen zu können, was es eigentlich möchte. Es ist plötzlich normal, wenn den Kindern und Jugendlichen Erfahrungen vorenthalten werden, die sie für ihre geistige, körperliche und moralische Entwicklung so dringend brauchen.
Basierend auf welchem Recht wird dies zugelassen? Warum habe ich als Vater, der durchaus eine bewegte (hoffentlich) Hälfte seines Lebens hinter sich hat, so unfassbar böse Bauchschmerzen mit der aktuellen Situation? Es ist der Verlust. Der Verlust meiner Kinder bezüglich einer unbeschwerten Kindheit. Und genau das bricht mir aktuell das Herz.
Unser Vielfraß ist 17 1/2 und wird wohl nicht wirklich einen Abi-Ball erleben. Ist auch nicht wichtig. Er kennt keine durchtanzten Nächte in Diskotheken, keine herbstlichen Lagerfeuer mit einem Mädchen in eine Decke gekuschelt, während der Nieselregen ihre Nacken herunterkriecht. Ist auch nicht wichtig. Ebensowenig die legendären „in der Woche Parties“, wo man am nächsten Schultag dem Unterrichtsgeschehen nicht so wirklich folgen konnte. Soziale Nähe, Austausch, Reibung, Diskurs, Rumfrotzeln, Scheitern, Konfrontation. Feuchte Hände und der Herzschlag bis zum Hals vor einem Date mit ihr, die so gut riecht, so witzig ist, so eloquent, so stark und taff und doch so beschützenswert – alles Dinge, die zum wichtigen Wachsen und Reifen eines Charakters offensichtlich nicht mehr essentiell wichtig sind. Das Erleben kurzzeitiger Freiheit, bevor einen der Erwachsenenalltag scheinbar in seinen Klauen hält. Das letzte Aufbäumen eines freien Geistes, bevor er sich von den Mühlen der aktuellen Realität einfangen lässt. Selbst dieser kurze Moment soll den Kindern heute genommen werden. Mit welchem Recht?
Mit welchem Recht darf er seine Flamme nicht ohne schwere DSGVO-Verstöße in ein Restaurant einladen, um danach noch hemmungslos knutschend in der letzten Reihe im Kino zu sitzen? Mit welchem Recht wird er wieder und wieder in seinen unveräußerlichen Freiheiten eingeschränkt? Das Leben ist Risiko. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde. Und genau das ist das Leben nun einmal, ein regelmäßiges Abwägen der Risiken basierend auf den eigenen Erfahrungswerten. Was würde aber passieren, wenn wir unseren Nachkommen genau diese Erfahrungswerte nehmen? Welche Menschen, welche Charaktere werden sie, wenn ihnen ein maßgeblicher Erfahrungsschatz einfach vorenthalten wird? Stünde ich mit meinem Glüggeweib dort, wo wir jetzt stehen, wenn wir all diese aufregenden, niederschmetternden, aufputschenden, heißen, aufwühlenden, schmerzenden, befriedigenden, guttuenden Momente nicht erlebt hätten? Hätten wir uns hinter der Maske in Jacken eingemummelt bei 14°C Klassenraumtemperatur überhaupt entdeckt? Wäre der Funke in sozial kalten Zeiten überhaupt übergesprungen? Sicherlich alles Spekulation und doch bereitet diese Frage mir in Hinblick auf meine Kinder Bauchschmerzen. Sehr böse Bauchschmerzen.
Der Winter naht und mit ihm die Weihnachtszeit, die wir sehr innig zelebrieren. Bei einer Weihnachtsschnulze vor flackerndem Kamin auf der Couch mit heißer Schokolade eingekuschelt, beim Plätzchenbackchaos in der Küche mit lautstark ertönenden Weihnachtsklassikern, die abendlichen Spaziergänge durch unseren geschmückten Ort. Wir lieben die prä-weihnachtlichen Momente fast mehr, als die eigentlichen Feiertage. Die Kids singen unter der Dusche lautstark erste Weihnachtslieder Ende Oktober… Das ist definitiv ein Verdienst meiner Frau. Ihr Weihnachtsfieber steckt jedes Jahr alle anderen an. Und auch dieses Jahr wird dies sicherlich nicht anders sein. Und doch denke ich, dass es diesjährig noch einmal eine wesentlich emotionalere Zeit sein wird, als je zuvor. Es wird in dieser Konstellation die letze Weihnacht sein, das letzte Nicht-Jul-Fest.
So ambitioniert meine Weihnachtswünsche auch jemals gewesen sein mögen, sind sie dieses Jahr für die meisten trivial, aus meiner Sicht jedoch umso ambitionierter. Ich wünsche mir, dass meine Kinder nicht immer zu Hause hängen. Ich wünsche mir, dass ich ab und zu nicht weiß, wo sie sind, wohlwissend, dass sie trotzdem wohlbehütet sind, dass sie ihre Erfahrungen unbeschwert machen können und scheitern. Dass sie Geheimnisse haben, die für uns trivial und für sie die Welt sind. Dass ich nachts um eins mit dem Auto am Bahnhof stehe und sie nach einem schönen Abend heimbringe. Ich wünsche mir, dass sie gegen die scheinbar unlogischen Fesseln rebellieren, die Schule infrage stellen, Obrigkeiten trotzen und aufrecht ihre Meinung vertreten. Ich wünsche mir, dass meine Kinder unindoktriniert ihre Meinung bilden können und mein Geschwafel als unwichtig ansehen, weil gerade ganz andere Dinge wichtig sind. Ich wünsche mir, dass sie auf Parties feiern, ohne Masken, ohne Angst. ich wünsche mir, dass sie einfach sein können, ohne Fesseln, ohne Ideologie, ohne Bevormundung.
Ich wünsche mir, dass sie Freiheit spüren, bis in die innerste Phase ihres Lebens, weil dies allein die purste und reinste Entwicklung garantiert. Ich wünsche mir, dass sie ihre Jugend zurückbekommen! Geht das in der Bundesrepublik? Wir haben nicht das Gefühl.
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