Oh was waren Ferien doch immer für ein Fest, ging es doch vom ollen Ost-Berlin stets zur Lieblingsoma nach Borna. Sie ist wohl der einzige Mensch in meinem Leben, der mich nie verurteilt oder ausgeschimpft hat, egal, was ich angestellt habe. Sie ist die Frau, die mich wie kein anderer geprägt hat.
Auch der Herr Papa freute sich jedes Mal, zu Trudla zu fahren, wie er seine Mutter Gertrud liebevoll zu nennen pflegte. Sie und Opa Ernst, der im zweiten Weltkrieg ein Bein verloren hatte und der einzige Mensch war, den ich damals kannte, der sich dank Gebiss selbst in den Popo beißen konnte, wurden aus ihrem schlesischen Dorf vertrieben, hatten Hof, Land und Besitz verloren und hatten in „Zwiwwel-Borna“, einer ursprünglich slawischen Siedlung, die von thüringischen Bauern ihre erste Blüte erfuhr, eine neue Heimat gefunden.
So stiegen wir in Kaulsdorf in unseren „Hugo“, einen markanten Trabant mit weißem Chassis, braunem Kühlergrill und laubfroschgrünem Dach und fuhren die heutige A9 bis kurz vor Leipzig, um uns dann über die Landstraßen nach Borna zu schlängeln. Kurz vor Vockerode, wenn der markante Elbbrückenturm der Buna Werke mit seinem markanten „Plaste und Elaste aus Schkopau“-Schriftzug in Sicht kam, wussten wir, dass es nur noch gut eine Stunde dauerte, bis wir Oma endlich umarmen durften.
Und jedes Mal fragte Papa, der so geographieverliebt war, „Na, über welchen Fluss fahren wir?“ „Über die Elbe“, antworteten mein kleiner Bruder und ich unisono, er begeistert und ich augenrollend. Mein Bruder war begeisterter Beifahrer und schaute immer staunend und aufmerksam in die Gegend, während ich lieber in meinen Büchern gefangen war. Wahrscheinlich begleite ich gerade Harka, den Sohn der großen Bärin, bei einem seiner Abenteuer, die Liselotte Welskopf-Henrich in ihrer Indianer-Hexalogie so wundervoll für mich in Druckerschwärze konserviert hatte. Ich liebte das Reisen während des Reisens. Andere Welten, andere Menschen, andere Eindrücke.
Wenn uns der Geruch von fauligen Eiern in die Nase stieg, klappte ich das Buch zu. Wir fuhren dann am VEB BV Espenhain vorbei, dem Braunkohlekraftwerk mit seiner beeindruckenden Schornstein-Skyline, welches den markanten Gestank verströmte. Was Karat dort zu seinem von Peter Maffay kopierten „Über sieben Brücken musst du gehen“ inspirierte, bleibt mir bis heute ein Rätsel.
Endlich in Borna angekommen, hatte Papa kaum das Auto geparkt, als wir schon ins Haus in der Straße der Freundschaft stürmten. Es ging zu Omas Wohnung eine steile Treppe drei Stockwerke nach oben, doch schon im Eingangsbereich stieg uns stets ein Duft von Karnickelbraten mit viel Knoblauch in die Nase, den es tradionell gab, wenn wir zu Besuch kamen. Für die Frau Mama gab es immer eine extra zubereitete Portion. Sie ist die einzige in der Familie, die Knoblauch nicht ausstehen kann, aber den Duft musste sie dennoch ertragen.
Wenn wir dann endlich im kleinen Wohnzimmer mit dem großen Kachelofen und den abgewetzten Sesseln auf der Chaiselongue saßen, während die Erwachsenen auf den Stühlen Platz nahmen, brachte Oma das Essen aus der Küche. Sie hatte den ganzen Vormittag an der Küchenhexe, auf der auch immer ein riesiger Topf für warmes Wasser stand, verbracht und zig Holzscheite verfeuert, um das Festtagsessen zuzubereiten.
Vor unseren Tellern standen immer zwei Salzstreuer, ein Pilz aus Holz für meinen Bruder und für mich ein kleiner schlesischer Bub in Lederhosen aus Porzellan. Diesen hatte schon mein Papa als Junge benutzt und nun war er mein Würzutensil. Das war Tradition, auch wenn sich Papa immer scherzhaft darüber beschwerte, dass es ja eigentlich seiner sei. Soweit ich mich an meine Kindheit zurück erinnern kann, gehört der Schlesienbub zu den Bildern, die ich ganz eng mit meiner Kindheit verbinde.
Auch die zwei Mal im Jahr stattfindenden Schlachttage haben sich eingeprägt, wenn alle Bewohner des Hauses für eine Sau zusammengelegt haben, welche dann auf dem Hinterhof geschlachtet, zerteilt und verwurstet wurde. Wir Kinder saßen dann schon im Morgengrauen in der kalten, weil noch nicht geheizten, Küche und drückten uns am Fenster zum Hof die Nasen platt und freuten uns auf die frische Leberwurst, die es an diesem Tag zum Abendbrot geben würde. Der Herr Papa freute sich eher auf das von Trudla zubereitete Kammsteak, welches solchen Schlachttagen folgte.
Als Opa 1987 friedlich in seinem Sessel bei einer Zigarre zur Zeitungsschau einschlief, sagten alle „Na dann wird die Trudla wohl auch nicht mehr lange machen.“ Wie falsch sie alle liegen sollten! Sie beglückte uns weitere 25 Jahre mit ihrem Sein. Nur die Zigarrenasche, die Oma immer sammelte und mit Öl vermischt als Möbelpolitur verwendete, musste durch gekaufte Politur ersetzt werden, sonst änderte sich am Ferienleben in Borna nichts.
Nach der Wende werden die Besuche bei Trudla immer weniger. Wir hatten kein Auto und der Alltag hatte uns gut im Griff. Während Cousine und Cousin in Nähe der Oma lebten und sie regelmäßig besuchten, waren wir Berliner weniger zu Besuch. Dennoch blieb das gleiche Ritual, die gleichen Gerüche und die gleiche Vorfreude Bestandteil der Bornareisen. Nur die Wohnung, die man als Kind noch als riesigen Abenteuerspielplatz empfand, schien plötzlich geschrumpft, ebenso wie die Oma, die immer kleiner zu werden schien.
Alt war sie geworden, die Trudla, die immer so viele Geschichten zu erzählen hatte und dabei immer wie eine Hexe lachte. Die Trudla, die so viele schlesische Lieder sang, während sie in der kleinen Küche ohne fließendes Warmwasser das Essen und ihre wundervollen Kuchen zubereitete. Mohnkuchen, Nusskuchen, Zupfkuchen, Quarkkuchen und diverse Kekse, Kipferl und Plätzchen – ja, das konnte Trudla mit Bravour und bis heute haben es weder die Frau Mama noch die Schwiegermutter hinbekommen, mir wieder annähernd solche Genüsse auf die Zunge zu zaubern.
Als wir Trudla das erste Mal mit unserem kleinen Sohn in Borna besuchen – Oma hatte weder an unserer Hochzeit teilgenommen, noch unser eigenes Häuschen in Brandenburg besucht („Ach Junge, ein so alter Baum geht nicht mehr auf Reisen. Hier bleibe ich, hier werde ich sterben“) – legte Trudla verschmitzt ein kleines Schächtelchen auf meinen Platz auf der Chaiselongue.
„Wenn ich mal sterbe, könnt ihr meinen kargen Besitz unter Euch aufteilen, aber das gehört nur Dir.“ Ich öffnete das Schächtelchen und dort lag, in Watte eingepackt, der schlesische Salzstreuerbub. Ich hatte einen großen Kloß im Hals und nahm die Oma fest in die Arme. Dieses Stück Kindheit war das einzige, was ich von meiner Oma haben wollte. Und dabei blieb es auch, als sie 2012 aus dem Leben schied.
Bis heute ist der Salzstreuer meiner und wird verehrt. Er hat in seinem Leben eine Reise von Schlesien über Borna nach Schweden hinter sich. Welcher Salzstreuer kann das schon von sich behaupten? Auch meine Kinder wissen, dass mir der Salzstreuer heilig ist und trauen es sich nicht einmal, ihn nach dem Frühstück wegzuräumen, aus Angst, ihn fallen zu lassen. Ich wäre wirklich am Boden zerstört. Er ist mein Ring der Macht – „mein Schaaaaaatz!“
Mein Sohn meinte zwar schon ein paar mal, „Ich erbe den ja sowieso, dann gehört er mir“, doch ich antworte immer lapidar, „das kannst Du vergessen. Dieser Salzstreuer geht an das erste Enkelkind, welches ich in den Armen halte. Es liegt also an Euch, in wessen Familie er nach mir wandern wird.“
Doch bis es soweit ist, wird er mir das Frühstücksei würzen, jedes Mal. Und immer werde ich voller Liebe und Zuneigung an Trudla und ihr markantes Hexenlachen denken, an die Geschichten aus Schlesien und an Karnickelbraten mit Knoblauch. Trudla lebt – in mir.

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