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Waldbaden XIV

Es war Spätsommer, und der Wald war erfüllt von der besonderen Ruhe jener Tage, an denen die Welt zwischen Blüte und Vergehen stillzustehen scheint. Ein leichter Nieselregen erreichte den Waldboden und das Laub begann sich langsam zu verfärben, erste gelbe und rostrote Blätter lagen verstreut auf dem Waldboden. Die Luft war schwer von Erde, Pilzen und langsam reifenden Beeren und warm und von den letzten goldenen Tagen, durchzogen vom leisen Lied der Insekten und dem fernen Rufen eines Eichelhähers. Der Wald atmete in langen, tiefen Zügen – nicht mehr im vollen Drängen des Sommers, noch nicht im Rückzug des Herbstes. Zwischen den Stämmen hing eine seltsame Ruhe. Alles war da – und wartete.

Neben unserem Freund tapste Lasse, sein neuer Gefährte – ein quirliger, neugieriger Australian Shepherd Welpe. Es war ihr erster gemeinsamer Spaziergang durch den Wald. Lasse sprang vergnügt durchs Unterholz, vergrub kurz die Schnauze im Laub, bellte einem unsichtbaren Geräusch nach und kehrte dann wie ein Wirbelwind zurück. Der Mann lächelte. Trotz allem, was ihn bedrückte, schaffte es dieses Tier, ihn aus dem lähmenden Strom der Welt zurückzuholen. In das, was einfach war.

Er setzte sich an einen von Wurzeln umwachsenen Baumstamm, Lasse legte sich mit einem zufriedenen Seufzen zu seinen Füßen. Der Mann sah ihm zu, wie er kurz die Augen schloss, das Ohr leicht zuckte, der kleine Körper ruhig atmete. Er lächelte und doch lag etwas Schweres in seinem Herzen – nicht Traurigkeit, sondern diese leise, melancholische Klarheit, die oft kommt, wenn der Sommer sich neigt und das Jahr langsam zur Reife kommt.

Er schob die Kapuze seiner Jacke zurück und betrachtete die Lichtspiele über ihm. Eine milde Brise streifte sein Gesicht, und er wusste – der Wald war da. Und hörte zu. „Ich frage mich oft, warum wir so schnell alles vergessen“, sagte er in die Stille hinein. „Wir haben Weltkriege erlebt, Zerstörung in einem Ausmaß, das niemand begreifen kann. Und doch streiten wir schon wieder, hetzen, spalten, spielen mit Feuer, das längst hätte ausgelöscht sein sollen.“

Die Bäume antworteten nicht mit Worten, aber das Knacken eines Astes in der Ferne und das langsame Flattern eines herabfallenden Blattes klangen wie ein Seufzen. „Weil der Mensch sich selbst für den Mittelpunkt hält“, flüsterte der Wald schließlich – nicht laut, nicht direkt, aber unüberhörbar für den, der gelernt hatte, mit dem Herzen zu hören. „Er sieht sich als Ausnahme, nicht als Teil. Deshalb wiederholt er, was er längst hätte begreifen müssen.“

Der Mann nickte. „Ich sehe das. Und ich weiß, ich bin nicht frei davon. Auch ich bin Teil dieser Welt, die zu viel nimmt, zu laut ist, zu schnell. Aber hier, bei dir, spüre ich etwas anderes. Eine Ordnung, die nicht kontrolliert werden muss. Eine Wahrheit, die nicht erklärt werden will.“

Der Wald schwieg einen Moment. Ein Vogel schwang sich lautlos durch das Geäst. „Du bist nicht der Einzige, der das fühlt. Viele spüren die Disharmonie, aber sie wissen nicht mehr, wo sie hingehen sollen. Sie suchen Antworten in Geräten, in Meinungen, in Ideologien – dabei liegt das Verstehen im Einfachsten.“

„Wie in diesem Hund hier“, sagte der Mann und strich Lasse über den Kopf. Der Welpe lehnte sich wohlig gegen sein Bein.
„Genau“, antwortete der Wald. „Er verlangt nichts – nur Nähe. Nur Sein. Er denkt nicht darüber nach, ob sein Leben einen höheren Sinn hat. Und gerade deshalb lebt er ihn.“

Der Mann schwieg lange. Dann sagte er nachdenklich: „Weißt du, Wald… ich glaube nicht an einen Gott im klassischen Sinn. Jedoch denke ich, dass wir vieles nicht wissen – vielleicht nie wissen werden. Aber wenn ich diesen kleinen Hund anschaue… wie viel Freude, wie viel unbedingte Zuneigung von so einem kleinen Wesen ausgeht… dann frage ich mich, ob das Leben nicht doch ein tieferer Ausdruck von etwas ist, das wir nicht benennen können.“

Der Wald rauschte amüsiert mit seinen Kronen. „Es ist gut, Fragen zu stellen, mein Freund. Und manchmal liegt in der bloßen Existenz eines unschuldigen Wesens wie Lasse eine Wahrheit, die größer ist als Worte. Die Natur braucht keine Dogmen. Sie braucht Verbindung, Balance, Achtung. Vielleicht ist das Göttliche nicht über dir, sondern in dir. In allem, was lebt. In allem, was wächst, ohne zu fragen. Stirbt, ohne zu klagen. Und liebt, ohne zu besitzen.“

Der Mann blickte in die wogenden Baumkronen, und seine Gedanken wurden still. „Wenn es etwas gibt, das diese Welt heil machen könnte“, sagte er schließlich, „dann vielleicht weniger Menschen.“
„Nicht weniger Menschen“, wisperte der Wald, „sondern Menschen mit weniger Selbstüberhöhung. Mit mehr Lauschen. Mehr Respekt. Mehr Mut zur Demut. Ihr habt euch entfernt. Vom Takt der Jahreszeiten, vom Fluss des Werdens und Vergehens. Ihr habt euch zur Krone der Schöpfung erklärt – aber vergessen, dass jede Krone einen Stamm braucht, Wurzeln, ein Gleichgewicht. Weniger Menschen, vielleicht – aber vor allem weniger Gier. Weniger Trennung.“

Lasse hob den Kopf, sah sein Herrchen an, dann in den Wald – als hätte auch er das gehört. „Vielleicht“, sagte der Mann leise, „ist das meine Art von Glauben: an eine stille, ungeschriebene Ordnung. An das, was du mir zeigst, ohne je etwas zu erklären.“

Der Wald schwieg nun wieder, aber es war kein kaltes, entferntes Schweigen. Es war das Einverständnis eines alten Freundes, der weiß, dass alles Wichtige gesagt ist – und dass es von nun an gelebt werden muss.

Der Mann erhob sich. Lasse sprang auf, voller Energie. Die Sonne sank langsam durch das grün-goldene Dach des Waldes. Und während sie gemeinsam zurückgingen, war der Mann erfüllt von einem Gefühl tiefer Übereinstimmung – mit dem Wald, mit Lasse, mit sich. Und mit jener leisen Ahnung, dass es eine Welt geben könnte, die ganz anders ist. Wenn der Mensch es endlich wagt, still zu werden. Und zuzuhören.

 

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