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Süßer Schmerz

Der Sommer ist da. Zumindest zeitweise. In unserem Garten ist die Hölle los. Unzählige Meisen, ein paar Sperlinge, Grünfinken, Rotschwänze und ab und an ein Eichelhäher. Bei Wolkenbruch ein Fest, wenn sich die gefiederten Gefährten ohne Scheu in unserem grünen Labyrinth aus Wein tummeln, welches unter dem Dach der Terrasse seine Bahnen zieht. Allesamt frech wie Bolle und in einer Farbenpracht, die einem das Herz aufgehen lässt. Das liebe ich, dafür lebe ich. Diese Terrasse ist für uns ein zusätzlicher Wohnraum geworden. Wir kochen hier, feiern mit Freunden, machen Hausaufgaben mit den Kindern, genießen Sommergewitter und lesen ein gutes Buch, bei Kerzenflackern und einer Flasche Wein.

Heute sitze ich mit eingeklemmtem Nerv in der Ischias-Gegend – sprich halb verkrüppelt – da, genieße das Konzert der Natur und sinniere vor mich hin, während Tina noch die eine oder andere Pflanze begutachtet und pflegt. Ihr Staudenbeet ist für mich eins der von Menschen geschaffenen Wunder. Mit einer Beharrlichkeit und Kreativität sondergleichen schafft sie ein riesiges, von Frühling bis Herbst kunterbuntes, abwechslungsreiches Potpourri aus Blüten, an dem ich mich nicht sattsehen kann. Ich bin der Mann für’s Grobe. Alles was man essen, einkochen, vergären oder räuchern kann, ist mein Metier, Brennnesseljauche ansetzen, Wühlmäuse und Nacktschnecken in ihre Schranken weisen, mich an Igeln erfreuen und an der Bewässerung tüfteln meine Passion. Meine Frau ist der Ästhet.
Und mein Fels.
Inzwischen hat sie sich zu mir gesetzt und nach einem erholsamen Schweigen nach dem Alltag mit zwei pubertierenden Kindern reden wir über das Leben, Gott und die Welt, Politik und Familiensorgen der Schwägerin, die im Harz lebt, mit einem naturverbundenen Mann, zwei prächtigen Söhnen und einer Landschaft zum verlieben. Sie haben ein Haus mit großem Grundstück, wo man den Bach in der Nähe rauschen hört, die Harzer Wälder einen Steinwurf von der Haustür entfernt, den Brocken in Sicht- und Wanderweite und zu jeder Jahreszeit eine herrliche Luft, die immer wieder reinstes Entzücken in mir hervorruft.
Trotzallem ist meine Schwägerin unzufrieden und empfindet trotz meiner goldigen Neffen und einem Prachtschwager keine Freude an ihrem Leben. Sie streitet unnötig mit anderen Mitgliedern aus der Familie des Schwagers und steigert sich in Einzelsituationen hinein und verletzt damit andere Menschen, obwohl dies nicht nötig wäre. Für sie gilt ein hart definiertes Schwarz und Weiß, dazwischen gibt es nichts. Sie legt ein krankhaftes Konsumverhalten an den Tag, was mich schon das eine oder andere Mal erschreckt hat. Es tut weh, jemandem, den man sehr gern hat, so verzweifelt nach Glück suchen zu sehen, wohl wissend, dass sich auf die versuchte Art und Weise kein Erfolg abzeichnen wird. Allein durch den Verlust der Freude macht sie sich das Leben immer dunkler und unerträglicher und erkennt dabei nicht, dass gerade die beiden Bengels genau zu dieser Zeit eine fröhliche und liebende Mutter benötigen. Diese Unfähigkeit, sich an etwas zu erfreuen, durchzieht dadurch auch immer mal wieder unsere Wahrnehmung und trübt die Stimmung. Und so sehr ich mich auch anstrenge, ich kann einfach nicht erkennen, was ihr in der aktuellen Konstellation fehlt. Manchmal komme ich insgeheim zu dem Schluss, dass die beiden scheinbar nicht zusammengehören. Zumindest nicht so, wie die eingehämmerten Konventionen es den beiden vorschreibt und es demzufolge auch jeder von ihnen erwartet.
Ich sinniere über unsere Partnerschaft und bin immer wieder unfassbar darüber erstaunt, wie sich bei uns alles gefügt hat. Einst ein hin- und hergerissener Jugendlicher mit Flausen im Kopf und in Rebellion gegen das Elternhaus, der auszog das Fürchten zu lernen und mit diesem Vorsatz auch erfolgreich war… Einer (aus damaliger Sicht) komplett zerstörten Familie zugehörig war ich der Meinung, dass so etwas wie Familie nie vernünftig funktionieren könnte, dass ich für die Vaterrolle nicht geeignet sei und dies sicher auch nicht das wäre, was ich mir wünsche. Ich konnte nie falscher liegen. Ich fiel tief und wurde aufgefangen, bedingungslos akzeptiert und geliebt. Und mehr hat es nicht gebraucht um letztendlich da gelandet zu sein, wo ich jetzt bin. Mit einer toughen, wundervollen Frau, zwei tollen Kindern und einem immer grüner werdenden Zuhause, eingebettet in einem so liebenswerten Freundeskreis, genügend entfernt von der Berliner Großstadt. Und ich liebe diese große Familie abgöttisch und würde dies auch tun, wenn wir in einer Wellblechhütte in der tiefsten Pampa hängen würden. Es hat sich zusammengefunden, was zusammen gehört. Mit allen Höhen und Tiefen, die das Dasein auf diesem Planeten nun mal mit sich bringt.
 
Ich verstehe nicht, warum Krisen uns immer mehr zusammengeschweißt haben, während andere Partnerschaften dadurch zerrissen wurden. Warum graben Paare in der Vergangenheit um sich gegenseitig Schuld einzureden anstatt zu verzeihen und sich am Augenblick zu erfreuen. Ich verstehe nicht, wenn in unserer unmittelbaren Umgebung Paare auseinandergehen, manchmal mit harschen Worten, während meine Liebe zu meiner Familie jeden Tag immer noch weiter wächst. Ich werde das wahrscheinlich nie verstehen, aber ich werde immer dankbar dafür sein, dass es so ist.
 
Wäre diese Familie nicht, hätte ich mich das letzte halbe Jahr sicherlich schon zu der einen oder anderen Dummheit hinreißen lassen, nach allem, was sich so die letzten Monate an Wahrheiten an die Oberfläche gegraben hat. Ich habe zum Teil meinen Glauben an diese Menschheit verloren. Zum Einen, weil es wirklich pervers faschistische Figuren auf diesem Planeten gibt, die so völlig ohne Skrupel das größte Sklavensystem des Planeten unterhalten, zum Anderen, weil die Sklaven so unglaublich tief schlafen, dass sie sogar ihre Sklaverei verteidigen, wenn man mit Ihnen darüber spricht.
 
Aber es soll heute nicht um Politik und Kabbale gehen sondern um das Brot für Offenheit, Demut und Vertrauen zu brechen. Genießt, was ihr habt, zu jeder Zeit! Viel zu schnell kann es Euch genommen werden, irreparabel, gnadenlos. Das zeigt das Leben immer wieder. Haltet die Menschen fest, die Euch etwas bedeuten und baut mit ihnen etwas auf, was eurer Seele gut tut. Das tue ich noch nicht zu hundert Prozent, sonst würde ich längst mit den Menschen, die ich liebe auf einem Dreiseitenhof leben und die Natur noch mehr zu einem Teil meines Lebens werden lassen. Aber der Weg ist das Ziel und es gibt keine schlechten Erfahrungen, sondern nur lehrreiche. Der Ort ist nicht das Ausschlaggebende. Ich bin hier zu Hause. Nicht an diesem Ort sondern unter diesen Menschen.
 
Tina ist inzwischen im Bett, ich genieße die laue Nacht, die Nachtigall violiniert ihre Stimmbänder zu einer herrlichen Symphonie und die Luft duftet verheißungsvoll nach Leben. Ich werde noch ein paar Seiten lesen, bevor ich diesen Tag verabschiede. Nichts auf dieser Welt, was mich mehr abschalten lässt, als ein gutes Buch. Nichts, was mehr beflügelt, als Geschichten über mutige, entschlossene und lebendige Menschen. Nicht befriedigenderes und berührenderes als die Gefühle und die Gedankengänge eines gleichgesinnten Charakters zu ergründen. Das Spiel mit der deutschen Sprache liebe ich zutiefst. Es gibt meiner Meinung nach keine andere Sprache, die in diesem Umfang und so detailliert beschreiben kann. Sie ist ein Geschenk für jeden, der ihre magische Macht zu schätzen weiß.  Es gibt so unglaublich schöne Texte, dass sich beim Lesen der Zeilen das Herz zusammenkrampft. Es gibt Zeilen, die mir eine so extreme Gänsehaut auf die Haut zaubern, dass ich diese Zeilen immer und immer wieder lese, um das wohlige Schauern zu genießen. Literatur wirkt bei mir etwas aus, wie bei meiner Tochter der Anblick von Tierbabys. Euphorie („Oh, wie süüüüüß!“) und dazu ein trauriges Gesicht, da dieser Moment so rein, so unschuldig so perfekt ist, dass es einem ein kleines bisschen weh tun muss, wohlwissend, dass dieser Augenblick irgendwann zu Ende ist.
 

Und so sitze ich hier, freue mich auf die nächsten Zeilen meines Buches und stelle fest, dass ich unglaublich reich bin. Und es hat in keinster Weise etwas mit Geld oder Besitz zu tun. In diesem Moment bin ich frei. Ohne Barriere, ohne Schranken und ohne Verpflichtungen. Ein schönes Gefühl, so rein, dass es fast weh tut.

 
 
 

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